Kosmetisches Lernen
Unsere Lehren aus dem Nationalsozialismus sind reine Makulatur. Denn unser ideologischer Kern ist geblieben – und unverstanden.
Vor einigen Tagen berichtete die BBC über ein Programm, welches ausgewählte Schüler britischer Klassen seit Jahren nach Auschwitz schickt, um dort mehr über den Nationalsozialismus im Speziellen und das Wesen von Faschismus im Allgemeinen zu lernen. Organisator ist der öffentlich finanzierte Holocaust Educational Trust. Man sieht: Andere Länder setzen sich also auch mit dem Nationalsozialismus auseinander, vielleicht wird die Welt doch noch ein guter Ort.
Bekannter Maßen ist Deutschland Meister dieser Erinnerungskultur, denn hier hatte das Übel schließlich seinen Ursprung. Nachdem sich die Generation meiner Eltern die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gegen meine Großeltern erkämpft hat, bin ich mit ihr aufgewachsen. Keine Geschichtsstunde kam ohne Referenzen zum Nationalsozialismus aus, und überhaupt schienen sich die meisten Geschichtsstunden nur um Hitlerdeutschland zu drehen. Man schaltet den Fernseher ein und sieht Guido Knopp vor dunkler Kulisse über Hitlerdeutschland sprechen, oder hört reisserische Beschreibungen des NS-Regimes mit der typisch Brücknerschen Besorgtheitsstimme zu düsterer Kriegsmusik.
Eine gute Sache, sollte man meinen. Wenn sich die Geschichte nicht wiederholen soll, dann sollte man sie zukünftigen Generationen so viel wie möglich vor Augen halten. Wir wissen nun, dass wir immer einen kritischen Geist behalten sollen, dass wir nicht einfach nachplappern sollen, was eine Autorität uns sagt. Ja, vor allem haben wir etwas über Autoritäten gelernt – diesen ist generell nicht zu trauen. Wir wissen auch: Wenn Leute ein Problem haben, dann suchen sie einen Sündenbock, und das waren unter Hitler die Juden. Vor allem aber haben wir gelernt: Der Nationalsozialismus, das ist generell ein ganz schwieriges Thema, man muss da aufpassen, was man sagt. Um auf der sicheren Seite zu stehen, verbindet man auch in wissenschaftlichen Aufsätzen Sätze, in denen es um Hitler oder den Nationalsozialismus geht, am besten immer mit einem der folgenden Wörter: bestialisch, Terrorregime, unfassbar, Gräuel und ähnliche. Eine weitere Regel: Wenn Du etwas Schlechtes über Juden sagen willst (und das wird man ja wohl noch sagen dürfen, schließlich kennt man sich mit denen ja aus!), dann nenne sie lieber Israelis oder Zionisten.
Wie das deutsche Volk plötzlich kollektiv und temporär dem Bösen verfallen konnte, ist keinem so richtig klar – am besten stellt man es sich wie eine Art teuflische Besessenheit vor, die nur von den 68ern erst so richtig exorziert wurde. Wichtig ist dabei die Tatsache, dass man als Deutscher jederzeit wieder zum Nazi werden kann, es gilt also, obige Regeln genau zu beachten.
Sieht so Verständnis aus? Natürlich habe ich übertrieben. Aber im Kern ist es mir mit obiger Beschreibung ernst. Unsere Faschismusaufklärung begrenzt sich auf die Analyse der möglichen Resultate einer Ideologie: Kennzeichnung von Rassen, autoritäre Systeme, Konzentrationslager, monumentale Architektur, reißerische Reden etc.. Um es nicht noch einmal zu diesen Symptomen kommen zu lassen, setzt man sich also für Gleichbehandlung ein und ist autoritätskritisch, kritisiert Monumentalarchitektur und Guantanamo, vermeidet Kritik an Ausländern und verhindert 1-Euro-Jobs, weil sie einen an Zwangsarbeit erinnern. Und setzt der Jugend von heute wie im Film Clockwork Orange (Uhrwerk Orange) immer wieder Bilder verhungerter Juden, schreiender Göbbels und Kriegsruinen vor, damit die Botschaft auch wirklich sitzt.
Damit ist die Entstehung und Funktionsweise von Ideologien aber noch nicht verstanden. Im Gegenteil: Konzentriert man sich nur auf Symptome von einzelnen Ideologien, nicht aber auf deren grundsätzlichen Kern, so besteht die Gefahr, dass das Befolgen der Regeln zur Symptomverhinderung zur bloßen political correctness verkommt. Echte ideologische Verhaltensweisen, die nicht exakt in dieselben erlernten Muster passen, werden nicht erkannt, zumal man sich ja aufgrund der Regelbefolgung bereits als aufgeklärt wähnt.
Wie Ideologien wirklich funktionieren, das haben wir nicht gelernt. Kurz gefasst sind Ideologien Folgen eines Interpretationsfehlers der Realität. Man erkennt sie daran, wenn die Rhetorik sich von der Realität entfernt, wenn eigene Vorstellungen das objektiv Feststellbare ersetzen. Der Ideologe weigert sich, die ganze Realität zu erfassen, und macht die ausgeblendeten Bereiche (Defizite) daher zu Projektionsflächen seiner Ängste. Sein Realitätsbild bleibt inkonsistent. Aufklärung ist das Gegenteil der Ideologie: Sie beschäftigt sich mit dem Auflösen von Inkonsistenzen. Zum Wesen der Ideologie aber an anderer Stelle.
Hier möchte ich darauf hinaus, dass wir nicht die richtigen Lehren aus dem Nationalsozialismus gezogen haben. Denn Deutschland verfolgt zwar heute (noch) keine Juden, die Schwäche für ideologischen Aberglauben und Groupthink ist jedoch geblieben. Dabei ist es wichtig, die strukturellen Gemeinsamkeiten scheinbar unterschiedlicher Überzeugungen und Bewegungen zu erkennen: Anti-Logik, Anti-Kapital, Anti-Technologie und pro Natur sowie Rassendenken. Erkennt man erst einmal gemeinsame Muster, dann sieht man: Deutschland ist immer noch ein Land der Ideologen. Dass Antisemitismus dazu gehört, zeigt, wie leicht sich das kosmetische Lernen austricksen lässt. Einige Beispiele:
Antisemitismus, Rassismus und Antirassismus
Insgesamt haben wir immer noch diesen Fokus auf das Rassische. Es sollte überhaupt keine Rolle spielen, ob jemand Jude oder Muslim, Pole oder Türke oder Araber ist. Doch unser Rassendenken kommt immer wieder durch, wenn wir es zum interpretatorischen Hintergrund unserer Einschätzungen machen – ob in Form unseres manischen Fokus auf Israel, unseres Anti-Rassismus* bei muslimischen Migranten oder des einfachen Rassismus.
- Wir ignorieren Fälle von echten Menschenrechtsverletzungen** und Besetzungen*, hetzen zeitgleich aber mit einem manischen Fokus gegen die “Besetzung” “Palästinas” (ihres eigenen Landes – mit militärischen Gegenschlägen, nicht mit Terrorismus) durch die Israelis. (Israelis gelten nicht als Ausländer und dürfen deswegen kritisiert werden. Außerdem hasst man sie dafür, dass sie einem so viele Unannehmlichkeiten bereitet haben).
- Ähnlich: Christliche Gruppen rufen zum Boykott gegen israelische Produkte auf* (das hatten wir doch schon mal), weil diese ihr Land nicht an ein diktatorisch regiertes und terroristisch dominiertes Volk abgeben wollen.
- Meinungsmacher interpretieren islamische Gewalt als kulturell nachvollziehbar oder “Notwehr” und verdrängen die Statistiken.
- Ständiges Unterstreichen von Multi-Kulti, anstatt sich auf Charaktereigenschaften, Handlungen oder Leistungen von Menschen zu konzentrieren.
Antikapitalismus:
- Der kleine Mann ist moralisch und arbeitet hart, der reiche Mann unmoralisch und hat sich sein Vermögen nicht verdient. Deswegen ist es auch OK, wenn man von oben nach unten umverteilt – mit höheren Steuersätzen oder Reichensteuer.
- Selbsternannte Antifaschisten propagieren die Kollektivierung von Eigentum (besetzte Häuser, Urheberrechte).
- Wir meinen, dass es uns was angeht, welche Firma welche Gehälter bezahlt.
- Wenn jemand jemandem Geld leiht und für den Ausfall an Handlungsspielraum Geld in Form von Zins verlangt, dann ist das unmoralisch.
Ökologismus:
- An Mülltrennung wird festgehalten, obwohl sie unnötig und teuer ist*.
- Die EU zwingt uns zur Umstellung auf die Energiesparlampe, obwohl diese weniger sparsam sind als behauptet und giftige Inhaltsstoffe haben*.
- Ein ganzes Land soll, dem Prinzip Hoffnung folgend, auf erneuerbare Energien umsteigen, obwohl kein fundiertes Umsetzungskonzept vorlegt. In der Zwischenzeit brechen die Strompreise neue Rekorde.
- Man steigt aus der Atomenergie aus, der bisher fortschrittlichsten und saubersten Energieform, weil sie zu gefährlich sei. Unbeachtet bleibt dabei die Tatsache, dass sie Energieform mit den wenigsten Todesopfern ist** und dass selbst ein undichtes Endlager keine Katastrophe wäre*.
- Man erfindet ein Schreckensszenario nach dem anderen, investiert Milliarden in die “Lösung” des nicht existenten Problems und kehrt dann unter den Teppich, wenn es sich als gar nicht so schlimm herausgestellt hat. Beispiel: Waldsterben* und Klimawandel**. Alternativ sagt man, dass sich die Situation nur durch die eigene Intervention gebessert habe*.
Anti-Rationalität:
Neulich sagte mir ein Kritiker in einer Diskussion um Hartz IV, es ginge nicht nur immer um das Rationale, ich solle einmal “mein Herz öffnen”. Das höre ich übrigens oft. Diese Weigerung, die Alternativlosigkeit und den Absolutismus des Rationalen bzw. Logischen anzuerkennen, ist der Kern dieser Ideologie.
- Man hält an nicht fundierten Meinungen fest (siehe oben), obwohl es widersprechende wissenschaftliche Erkenntnisse gibt. Diese tut man ab mit der Bemerkung, dass es “mehr als nur Wissenschaft” gebe oder “jede Statistik ja was anderes sagt”. Oder auch: “Jeder hat seine eigene Logik”.
- Festhalten am Geist-Körper-Dualismus und an religiöser Metaphysik.
- Unbegründete Befürchtungen werden mit der Realität verwechselt (Klimawandel, Waldsterben, Atomkatastrophen, Überwachungsstaat).
- Subjektiv Gefühltes wird als ernstzunehmender Gegenpol des Objektiven dargestellt.
- Wissenschaftlicher Fortschritt, der zu einer echten Veränderung führt, wird skeptisch betrachtet: Gentechnologie, Atomenergie, Weltraumforschung, Robotik, Cyberimplantate etc.
Letzteren Punkt halte ich für den Kernpunkt aller Ideologien. Da das Objektive, Logische, einziger Maßstab einer jeden Erkenntnis sein muss, muss jedes Abweichen und Bevorzugen des Ideellen zu einem subjektiven Willkürdenken führen und damit jenen konzeptuellen Ausuferungen, die ich als Ideologien bezeichne.
Aber zum philosophischen Teil an anderer Stelle. Fest steht: Wir haben ziemlich wenig gelernt. Wir haben uns nicht einmal die Mühe gemacht, die ideologischen Kategorien Hitlerdeutschlands zu ändern. Auch dort ging es um Rassen (insb. Juden), Natur, die Ideologisierung der Naturwissenschaften, Antikapital und Antizins. Wir formulieren es heute nur ein bisschen anders und sind deutlich moderater.
Anders als damals suhlt man sich heute in der Vorstellung, man habe anderen Ländern die Lehren des Nationalsozialismus voraus und sei daher moralisch überlegen. Das erklärt auch, warum die meisten ideologischen Vereinigungen und Forderungen als Heilsbewegungen daherkommen. Anders ist auch, dass wir heute etwas vorsichtiger bei der Verbindung von Ideologie mit Gewalt sind – hier hat der Pazifismus zumindest auf dieser Handlungsebene etwas gebracht, wenn er auch sonst ziemlich unreflektiert ist.
Welche Lektion soll ein Jugendlicher also heute vom Besuch eines Konzentrationslagers für seine Zukunft lernen – “Baue keine Konzentrationslager”? “Zu so etwas sind Menschen in der Lage”? Ich möchte den pädagogischen Wert solcher Aktionen nicht abstreiten – sicherlich hilft die Konkretisierung der Schullektionen und Fernsehbilder beim Begreifen des deutschen Genozids. Zur Verhinderung der Ideologieentstehung und damit zusammenhängender Exzesse tragen sie jedoch nur sehr begrenzt bei. Ebenso wenig eine politisch korrekte Wortwahl. Nein, dazu wäre ein grundsätzliches Verständnis von Ideologien vonnöten: Woran erkennt man eine Ideologie und ihre typischen Denkmuster? Wie entsteht groupthink und Deutungshoheit? Was sind die historisch messbaren Folgen ideologischer versus nicht-ideologischer Entscheidungen und Staaten? Warum kommen wir um Logik und Wissenschaft nicht herum, warum sind sie das Fundament allen Denkens und Handelns?
Zukünftige Gesellschaften werden hier hoffentlich einen Schritt weiter sein.
Leave a Reply