Was wir von Indern lernen können
Okay, der Titel ist schon recht plakativ, und er gilt natürlich nicht für jeden Inder, zumal ich mich vor allem in Kerala aufhalte, und auch nicht für jeden Deutschen, und so weiter und so fort…aber ich möchte doch einmal, durch das subjektive Beschreiben von groben Tendenzen, die Vorstellung brechen, dass wir in Deutschland ja bei allem irgendwie den Dreh raus haben und Indien halt so ein Entwicklungsland ist. In manchen Punkten können wir uns wirklich eine Scheibe abschneiden, und damit meine ich nicht den üblichen Yoga-Eso-Kram:
1. Weniger political correctness
Während sich in Deutschland die sensiblen Themen mehren und man manchmal mehr mit dem Gedanken beschäftigt ist wie und ob man etwas sagen kann als mit dem Inhalt, gibt es in Indien – entgegen dem Vorurteil – weniger Tabus als bei uns. In meinen vielen Gesprächen mit ganz unterschiedlichen Menschen bin ich fast nie an eine Grenze gestoßen, wo betretenes Schweigen herrschte oder der andere sonst irgendwie übersensibel reagiert hätte. Mit einer Selbstverständlichkeit habe ich offen über sinnvollere und weniger sinnvollere Religionen, die Vorteile der verschiedenen Energieformen, über arrangierte und Liebes-Ehen, über helle und dunkle Haut, und viele ähnliche Themen sprechen können, ohne dass von vornherein klar war, welche Meinung man eigentlich vertreten muss, ohne sozial ausgeschlossen zu werden. Über das Offensichtliche (Hautfarbe, ob jemand dünn oder dick ist) werden auch einmal Witze gemacht, ohne dass daraus ein Diskriminierungs-Eklat wird. Mit einer ähnlichen Direktheit wird mit offenem Mund gestarrt, wenn es was Interessantes zu sehen gibt oder die weiße Frau gefragt, warum sie denn so viele braune Flecken auf ihrer Haut hat. Diese Natürlichkeit im Umgang hat etwas enorm Erleichterndes.
2. Mathematische Kenntnisse
Es ist ein Klischee, aber es stimmt auch einfach. Die einfachsten Handwerker scheinen hier mehr drauf zu haben als ich (und nein, ich liege nicht unter dem deutschen Durchschnitt). Bei der Abschätzung des Materialbedarfs für verschiedene Renovierungsarbeiten hat der Handwerker etwa 2 Minuten gebraucht, und ich etwa eine Stunde mit “Floorplanner” und Excel, um zu demselben Resultat zu kommen. Aufgeschrieben wird selten was, das passiert alles im Kopf. Die 26jährige Schwester meiner Gastgeberin kann jetzt immer noch genug Mathe, um ihrem 17jährigen Schwager bei seinen Schulaufgaben zu helfen.
Während meines Studiums an einer indischen Business School musste ich die mathematischen Unterschiede zwischen Indern und Europäern bereits leidvoll erfahren, hatte dies aber damals auf die elitäre Auswahl der indischen Mitstudierenden geschoben. Im Alltag bestätigt sich jetzt aber, dass die Inder es ingesamt drauf zu haben scheinen. Ob das nur an der besseren Ausbildung liegt oder auch irgendwie rassisch bedingt ist, weiß ich nicht. Es ist jedenfalls respekteinflößend.
Ähnliche Tendenzen zeigen sich übrigens beim Gedächtnis und der Fähigkeit zur Multilingualität. Dass ich nach zwei Wochen noch kein Wort Malayalam spreche, schien meine Gastgeberin ernsthaft überrascht zu haben. OK, ich bin nicht gerade für mein gutes Gedächtnis bekannt und sprachbegabt bin ich auch nicht, aber ich meine trotzdem hier eine gewisse geistige Schärfe festzustellen, der ich in Europa nicht so häufig begegne. Ich meine damit keine höhere Intelligenz, sondern die Art der Fähigkeit die eben zu Mathematik und Sprachen befähigt.
3. Bildungsorientierung
Passend dazu: Indische Eltern tun alles, um ihren Kindern die bestmögliche Ausbildung zu ermöglichen. Es ist oft die allerhöchste Priorität der Familie. Dabei wird schon in der Schule für den späteren Beruf geplant – ich habe hier mehr Jugendliche als in Deutschland getroffen, die schon genau wussten was sie später beruflich machen wollten. Bildung öffnet hier echte Türen und es wird nicht als selbstverständlich angesehen oder etwas, wofür der Staat verantwortlich ist.
4. Bessere soziale Aufstiegsmöglichkeiten
Die Wahrscheinlichkeit eines self-made mans, der es von ganz unten nach ganz oben schafft, scheint hier deutlich höher als in Deutschland, ohne einen nennenswerten Sozialstaat wohlgemerkt. Anders als bei uns wird der Aufstieg gewünscht und respektiert, es ist etwas Positives, wenn man viel Geld verdienen will oder es bereits tut. Ich kenne mehrere Beispiele von Menschen, die sich innerhalb ihres Lebens im sozialen Gefüge hochgearbeitet haben, es ist nichts Ungewöhnliches. In Deutschland dagegen bleiben die meisten Leute nach meiner Erfahrung in ihrer “Kaste”. Dazu passend habe ich hier auch noch nie so etwas wie Sozialneid mitbekommen.
5. Zukunftsorientierung
Unser Gerede von Zurück zur Natur und den angeblichen Gefahren von neuen Technologien habe ich hier noch nie gehört. Wenn ich den Handwerkern erkläre, dass unser Haus zwar gepflegt, aber alt und “vintagemäßig” aussehen soll, kann das keiner nachvollziehen. Traditionelles Handwerk und Handarbeit wird hier fast immer aus Not praktiziert, nicht weil man es – wie bei uns – für hochwertiger hält als maschinell Erstelltes. Es herrscht großer Respekt für importiertes Technologiegut aus dem Westen.
6. Kein Stress
Insgesamt herrscht hier meist gute Laune und Entspannung. Man stresst sich einfach nicht. Wenn es meinen Handwerkern zu anstrengend wird, dann schalten sie einfach ab und fahren bald nach Hause, sodass man es ihnen beim nächsten Mal nochmal erklären muss. Das ist sicherlich kein Vorbild-Modell für effizientes Management auf irgend einer Ebene, und selbstverständlich treibt es mich in den Wahnsinn – aber andererseits ist es auch eine Fähigkeit. Auf der Straße wird nett gegrüßt, die Kinder winken (OK, das liegt daran dass ich weiß bin), aber die Leute gehen auch miteinander entspannt und nett um (es sei denn sie sind gerade betrunken und streiten sich wegen eines Glücksspiels). Viele Inder können einfach so über einen längeren Zeitraum allein auf einem Hocker vor ihrem Haus sitzen, oder auf der Hauptstraße rumstehen, ohne dass sie unruhig werden.
Für das deutsche Gerede von Entschleunigung wird es hier nie einen Bedarf geben.
In diesem Sinne – ohm – ich glätte dann mal weiter die Ecken meiner deutschen Mentalität an der indischen Kratzbürste und begebe mich wieder auf die Baustelle!
Leave a Reply