Praxistest: Leben “im Einklang mit der Natur”
Kerala ist ein Ort, der dem städtisch-virtuellen Traum vom Leben im “Einklang mit der Natur” recht nahe kommt. Schon morgens weckt einen das Vogelgezwitscher und die meckerne Ziege. Schweißgebadet steht man auf, denn der Ventilator ist wegen eines Stromausfalles ausgefallen. Dann trottet man ins Badezimmer, in dem sich über Nacht allerlei inzwischen verstorbene Fliegen angesammelt haben. Bevor man sein Geschäft verrichtet, hebt man lieber einmal kurz die Klobrille, denn darunter könnte sich eine handtellergroße Spinne verbergen. Es geht ans Zähneputzen, wobei darauf geachtet werden muss, das Leitungswasser nicht zu trinken, denn dieses ist mangels industrieller Wasserversorgung dem benachbarten Kanal mit seinem fragwürdigen Mix menschlicher Erzeugnisse entnommen.
Dann geht es – zum Glück motorisiert – zur Baustelle. Da die Straßen naturbelassen, ungepflastert und uneben sind, dauert die 2km Fahrt etwa eine halbe Stunde. Auf dem Weg begegnet man diversen Ziegen, Kühen und Entengruppen am Wegesrand, sowie diversen ausgestorbenen Vogelspezies, die Besitz von den oberirdischen Stromleitungen ergriffen haben. Auf den Feldern zur Rechten greifen alte Frauen gebückt nach Reisrispen, während links ein ausgemergelter Fischer per Hand sein Boot durch den Kanal navigiert. Ein Paradies auf Erden, denkt man sich, bei kühlender Zugluft mit kaltem Wasser im Jeep sitzend.
An der Baustelle wird Wert auf traditionelle Handarbeit gelegt, und so wird der gesamte Putz des Hauses mit Spachtel entfernt, die Holzlasur mit Schmirgelpapier, und der Abwassertank mit Muskelkraft in der Erde verbuddelt. Neue Technik wie Atemschutzmasken wird beim Lackieren abgelehnt. Die Handarbeit stellt sich als Vorteil heraus, da aufgrund der regelmäßigen Stromausfälle eine Maschine ohnehin nicht nützlich wäre. Zu Mittag wird der erschöpfte und hustende Körper dann zur Erfrischung im Kanal gewaschen, wobei Schlangen eine stete Gefahr darstellen. Die Handwerker sind dabei jedoch nicht so gefährdet wie die Bauern, welche aufgrund der manuellen Ernte in den bei Schlangen so beliebten stehenden Gewässern der Reisfelder regelmäßig einen qualvollen Schlangengift-Tod erleiden.
Während man die Handwerker ihrer Muskelkraft überlässt, sucht man sich ein schattiges Plätzchen unter einem nahestehenden Gewürzbaum. Möchte man dort längere Zeit verweilen, ist es ratsam, festes Schuhwerk zu tragen, da der nackte Fuß ein beliebter Exerzierplatz für rote Ameisen zu sein scheint. Zeitgleich regnet es diverse Insekten aus dem Baum, die gerne an schwitzender Haut festkleben oder das Innenleben von Laptops erkunden, in dem sie sich meist so lange aufhalten, bis man den Laptop wieder zu Hause auf das Bett legt. Zur Abwechslung kann man sich mit der grasenden Kuh beschäftigen, die sich meist angeregt mit einem Kranich unterhält.
Vor Dunkelheit sollte man sein Heim wieder aufgesucht haben, denn dann frönt nicht nur die Viper gerne ihrer Natur, sondern offenbar auch der indische Mann, dem man, so wird stets geraten, im Dunklen lieber nicht allein begegnen sollte. Zu Hause erkaltet der Schweiß ebenso wohltuend wie abstoßend in der Kälte der Klimaanlage, bis diese erneut ausfällt und man sein Wohl in der Dusche sucht. Die Natur-integrierende Architektur des Hauses sieht keine verschließbaren Badfenster vor, und so hält man sich dort aus Angst vor Tierübergriffen nicht lange auf und beeilt sich, wenigstens die größten Tiere wie Eidechsen, Frösche, Spinnen und größere Käfer aus der Duschecke zu verscheuchen. Auf der Toilette die übliche Überwindung, sein weibliches Unterteil ungeschützt in solch einem natürlichen Umfeld zu exponieren.
Dann kommt das tägliche tropische Gewitter. An dem kurzen Zeitabstand zwischen Donner und Blitz weiß selbst der Städter zu erkennen, dass der Blitz nicht weit ist. Schnell müssen alle Lampen, Ventilatoren und andere elektrische Geräte abgeschaltet werden, denn einen Blitzableiter gibt es nicht. So bietet die Natur jeden Tag ein wahres Glücksspiel. Aus Angst verirrt sich dabei manchmal eine Ziege ins Haus. Der Schweiß ist erneut ausgebrochen, man kämpft aber nicht wieder dagegen an. Schließlich kann man seine verschwitzte Kleidung ja später per Hand im Kanal waschen.
Die Nacht bricht an und das Spiel mit den Insekten geht in die nächste Runde. Man muss abwägen zwischen Ventilation durch geöffnete Fenster oder Licht. Bemüht man sich um einen Kompromiss mit hellem Laptopbildschirm im dunklen, ventilierten Raum, wird der Monitor zum Anzugspunkt verschiedentlicher Spezies, deren Körperbau man vor dem erleuchteten Hintergrund gut studieren kann. Ist man an biologischen Studien weniger interessiert als am Lesen von Websites, dann schafft nur das Anzünden einer noch helleren Lichtquelle im benachbarten Badezimmer Abhilfe. Und so beginnt der Zyklus von neuem, mit ökologisch einwandfreien Leichenbergen im Bad im nächsten Morgen.
Nur die nächtlichen Träume sind ganz unnatürlich, und schwelgen in Welten mit funktionierender Stromversorgung, frischem Wasser, Industrialisierung und Infrastruktur. Doch die Natur hat einen schon wenige Stunden später wieder in ihren Fängen.
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