Das Märchen vom guten Menschen
Es war einmal ein guter Mensch, der wollte die Welt vor der Zerstörung durch böse Menschen retten. Diese hatten die natürliche Ordnung durch die Eingriffe ihrer sogenannten Zivilisation schon viel zu lange in Gefahr gebracht – die Welt musste mit aller Kraft wieder auf den rechten Weg der Schöpfung gebracht werden. Von Menschenhand geschaffene Entartungen fand er wohin er auch blickte, fast schien sich die Welt von Tag zu Tag zu verschlechtern. Und so verlor er keine Zeit, die Übel der Welt aus dem Weg zu räumen.
Es begann mit sterbenden Wäldern. Davon hatte ihm ein anderer guter Mensch erzählt. Die Zivilisation müsse Schuld sein, da war man sich schnell einig. Und so fackelte er nicht lange: Er organisierte Proteste, gründete eine Hilfsgruppe und schickte die dramatischsten Fotos kranker Bäume an alle Zeitungen, die er finden konnte. Bald hatte er das ganze Land überzeugt, dass der Mensch die Wälder bald ausgerottet habe. Berge von Gold wurden für Rettungsprogramme ausgegeben und Lehrprogramme an Schulen geändert. Selbst im fremdsprachigen Ausland kannte man bald den Begriff “Waldsterben”.
Doch trotz allen Aufwands konnte das Waldsterben nie nachgewiesen werden. Bald wandte man sich anderen Themen zu, die vielversprechendere Untergangsszenarien boten, und das Waldsterben ward vergessen. Doch das bekümmerte den guten Menschen nicht weiter in der Annahme, dass er grundsätzlich richtig gelegen und die Menschheit ein Stück vorangebrachte habe.*
Derselbe Missionseifer ergriff ihn beim Anblick der riesigen Abfallberge, die sein Land jedes Jahr ohne jeden Respekt für Mutter Erde produzierte. Aus der Ecke der Fortschrittsfanatiker hieß es, man solle zur Lösung des Problems bessere Maschinen für die Abfall-Sortierung entwickeln – so könnten die meisten Rohstoffe wiederverwendet, hohe Transportkosten gespart und die Fehler beim menschlichen Sortieren reduziert werden.
Doch dieser Vorschlag entsprach in keiner Weise der Mission des guten Menschen. Denn noch viel wichtiger als das Resultat der Abfallverwertung erschien ihm die Umerziehung der Menschen – sie sollten Buße tun für das, was sie der Natur täglich antaten, und zumindest selbst einen Beitrag leisten. So überzeugte er den König, jeden Bürger zur Trennung seines Abfalls in mehrere Arten anzuhalten. Bald gehörten verschiedenfarbige Mülltonnen in Häusern und Höfen zum alltäglichen Bild und viele Bürger waren stolz, etwas zur Rettung der Erde beizutragen. Jede Tonne wurde eigens abgeholt und separat verarbeitet, wobei eine Nachsortierung aufgrund der vielen Fehler fast immer nötig war. Aufgrund der hohen Kosten dieses Systems war die Anschaffung vollautomatischer Anlagen nun kaum mehr möglich. Doch der gute Mensch hatte sein pädagogisches Ziel erreicht und schritt weiter voran zur nächsten guten Tat. Denn keine Zeit durfte zur Rettung der göttlichen Schöpfung vergeudet werden.
Wie zur Bestätigung seiner Mission geschah bald ein furchtbares Unglück mit der schon immer verdächtigen Kernenergie im Nachbarland.* Ein veralteter Reaktor und ein menschlicher Fehler seien die Ursachen gewiesen, so hieß es. Doch der gute Mensch ließ sich von dieser Propaganda nicht beirren und wusste gleich, dass es an der teuflischen Technologie an sich gelegen habe, die der Mensch nie hätte erfinden dürfen. Das Schicksal meinte es zunächst nicht gut mit ihm, als eine gemeinsame Untersuchung vieler Königreiche zum Ergebnis kam, dass nur wenige Menschen dem Unglück zum Opfer gefallen seien. Doch er wusste, dass es sich dabei um eine Verschwörung handeln musste und gab eine weitere Untersuchung bei befreundeten Gelehrten in Auftrag. Endlich konnte so ans Tageslicht kommen, was er längst gewusst hatte: Die Dunkelziffer der Opfer könnte womöglich bei Zehntausenden liegen. Zwar war dies nicht erwiesen, die Vermutung war ihm aber genug. Und so tat er alles, um die Öffentlichkeit von seiner Wahrheit zu überzeugen. Eine Mehrheit der Bevölkerung stimmte ihm bald zu, denn schließlich wollten auch andere Menschen gute Menschen werden, und nicht lange danach hatte er auch weite Teile der Politik überzeugt, dass ein Ausstieg aus dieser Energieform die einzige Lösung sei. Bis dahin wurde die Wiederverwendung verbrauchter Materialien verhindert*, Forschung zur Reduktion der gefährlichen Strahlung und andere Verbesserungen blockiert, und ganze Räume an Gold für die Sicherung der jährlich von Protest begleiteten Transporte radioaktiver Materialien ausgegeben.
Als zwischenzeitlich eine Verschwörung reicher Fabrikanten den Ausstieg aus dem Ausstieg durchgesetzt hatte, passierte in einem fernen Lande in einer Gegend namens Tohoku eines der schlimmsten Erdbeben aller Zeiten. Es löste einen Tsunami aus, verwüstete Ortschaften, zerstörte hunderttausende Gebäude, ließ einen Staudamm einbrechen und Raffinerien brennen, verletzte 6.000 Menschen und riss fast 20.000 in den Tod*. Auch dutzende Kernkraftwerke befanden sich im Einzugsgebiet, von denen das älteste – wie vom Himmel gewollt – so beschädigt wurde, dass etwas radioaktiv strahlendes Wasser austrat.
Zwar kam durch die Strahlung des beschädigten Reaktors kein Mensch ums Leben, doch den guten Menschen beschäftigte dieser Vorfall am allermeisten. Ja, eigentlich war nur der Unfall im Kernreaktor der Rede wert und nicht die Katastrophe an sich. Dank seines Einflusses redete bald das ganze Land nur vom Kernreaktor und dem Ort, in dem er sich befand: Fukushima.
Wenn jemand dem guten Menschen Einseitigkeit vorwarf, entgegnete er, dass es reines Glück gewesen sei, dass die Teufelsenergie dieses Mal keine Toten gekostet habe. Die Menschheit sei noch einmal knapp davongekommen und müsse nun endlich ihre Lektion lernen.
Denn selbst wenn keine Unglücke passierten, sei da ja immer noch das unlösbare Problem der Endlagerung. Hierauf hielt man ihm entgegen, dass die Dramatisierung der Endlagerung einer wissenschaftlichen Grundlage entbehre und andere Energieformen und Abfallarten mehr Probleme verursachten*. Auch warf ihm so mancher Ignorant vor, dass er selbst die Forschung an der Endlagerung verboten hatte*. Doch diese Einwände konnte er schnell abwenden, denn die Teufelsenergie konnte wohl kaum mit anderen Energieformen verglichen werden, geschweige denn mit gänzlich anderen Produkten, und jeder derartige Vergleich, da war sich der gute Mensch sicher, forderte nur die fahrlässige Verharmlosung dieser sündhaften Technologie. Davon überzeugte er auch bald den König, und das Ende der Kernenergie wurde endgültig besiegelt.
Doch das war nicht genug, denn im nächsten Schritt wollte der gute Mensch dafür sorgen, dass neue, natürlichere Energieformen aus Sonne, Wind und Wasser den Platz der Teufelsenergie einnehmen würden. Da diese weniger effizient und damit teurer waren, riet der gute Mensch dem König dazu, vom Volk eine zusätzliche Abgabe für die Finanzierung der neuen Energien zu fordern und eine Einschränkung des Energieverbrauchs zu erzwingen, was dieser prompt tat. Mit diesen neuen Energien, so beteuerte der gute Mensch dem König, würde der Mensch wieder auf dem richtigen Pfad der göttlichen Schöpfung wandeln, da er nicht so tief in sie eingreifen würde. Die höheren Kosten seien nur eine temporäre Erscheinung und das Resultat einer Kernenergie-Verschwörung. Schon bald würden sie die Früchte ihrer tugendhaften Initiative ernten können.
Zwar waren die neuen Energieformen nicht zuverlässig, teilweise giftig, und noch deutlich teurer als Kernenergie, sodass einige Bürger in die Armut getrieben wurden, während die wohlhabenderen Besitzer der Anlagen profitierten. Doch kein Preis war zu hoch für die Rettung der Erde. Während das Stromnetz immer fragiler wurde und die Strompreise stiegen, hatte sich der gute Mensch jedoch schon dem nächsten Projekt gewidmet.
Denn längst war die nächste Katastrophe ausgebrochen, die es einzudämmen galt: Eine Gruppe von Gelehrten, deren Daseinsberechtigung die Existenz eines menschengemachten Klimawandels war*, verkündete eines Tages, dass der weltweite Temperaturanstieg menschengemacht sei. Zwar räumten die Gelehrten ein, dass ihre Wissenschaft mehr Schätzung als Voraussage sei; und hier und da wurde eingeworfen, dass die Gründe für den Temperaturanstieg nicht klar verstanden seien und die weitere Entwicklung nur geraten werden könne. Auch ließ der eine oder andere Vertreter der Klima-Profession kleinlaut verlauten, dass Temperaturschwankungen schon immer stattgefunden hätten. Doch die Wahrheit stand für den guten Menschen längst fest – denn dass der Mensch die Erde zerstören würde, war schließlich die Grundannahme seiner Philosophie. Er vergeudete keine Zeit auf weitere Forschung, und teilte der Welt mit aller Hingabe mit, wie schlimm es um ihre Zukunft bestellt sei und dass nur noch die Selbstbeschränkung und Opferbereitschaft der westlichen Gesellschaft zur Rettung der Welt im Stande sei. Enorme Goldreserven vieler Länder wurden verwendet, um die Menschen aufzuklären, hohe Abgaben für klimaverdächtige Abgase erhoben, und energieintensive Technologien verboten oder verteuert. Nobelpreise wurden für die größten Warner vergeben.
Doch keine der Vorhersagen traf jemals zu, und eines Tages wurde sogar bekannt, dass die Temperatur seit vielen Jahren gar nicht mehr angestiegen sei. Die größten Verfechter des Klimawandels wurden stiller und korrigierten ihre Vorhersagen. Doch den guten Mensch beirrte das nicht.
All dies war aber nicht genug, um den Mensch wieder auf Gottes gewollten Pfad zu führen und längst hatte der gute Mensch eine neue Rettungsmission erdacht: Den großen Dürren in fernen Landen gedenkend, kam er auf die Idee, in seinem Lande Wasser zu sparen. Denn man solle schließlich nicht auf Kosten der Ärmsten auf hohem Fuß zu leben. Wissenschaftliche Beweise bemühte er nicht, denn diesen war ohnehin nicht zu trauen – lieber vertraute er seiner Intuition, die ihn bisher ja auch nicht getäuscht hatte. Dank seines inzwischen gewachsenen Einflusses wurde seiner Empfehlung schnell glauben geschenkt und Bürger gaben erneut bergeweise Gold für die Umrüstung ihrer Haushalte aus. Auch der König war gleich eifrig bereit, Wassersparen mit den Abgaben seiner Bürger zu unterstützen.
Als das ganze Land sich an die neue Wasserknappheit gewöhnt hatte, stellte sich jedoch heraus, dass kein Austausch zwischen den Wasserreserven der Länder stattfand und die Bürger ganz umsonst Wasser sparten. Es stiegen sogar die Wasserkosten, denn die Abwasserrohre waren nun trocken und mussten aufwändiger gereinigt werden. Doch der gute Mensch wütete weiter zur nächsten Aufgabe.
Eines Tages hörte der gute Mensch von künstlich erzeugtem Saatgut, das resistent gegen Ungeziefer und vitaminreicher sein solle. Als sei dieser Übergriff durch den Menschen noch nicht schlimm genug, erfuhr er auch, dass dieselbe Technik sogar dafür verwendet werden sollte, ungeborene Kinder zu Forschungszwecken verwenden. Ob es sich dabei um Zellen oder einen Säugling handelte war dabei zweitrangig – denn Gottes Werk war Gottes Werk, egal in welchem Zustand.
Einige Sophisten meinten, ein genetischer Eingriff sei doch nichts anderes als eine effektivere Art der Züchtung, welche seit Anbeginn der Menschheit praktiziert werde*. Auch wurde entgegen gehalten, dass die Forschung mit menschlichen Zellen viele Leben retten und verlängern könne. Diese belehrte er, dass das menschliche Leben nun einmal endlich sei und man sich nicht einem unnatürlichen Streben nach Übermenschlichkeit hingeben solle.
Nein, dieses Teufelswerk musste ebenso eliminiert werden wie die Kernenergie, die auch im Unsichtbaren, direkt am Quell der göttlichen Schöpfung Hand anlegte. So redete er inständig auf den König ein, dieser solle sich doch um Gottes willen gegen dieses Teufelswerk aussprechen. Der König war schon lange auf der rechtschaffenen Seite des guten Menschen, und so schloss er sich schnell seiner Meinung an und verbot diese Praktiken in seinem Lande.
Viele Gelehrten verließen daraufhin zu Studienzwecken das Land,* und kranke Menschen mussten auf die Entwicklung heilender Mittel in anderen Landen hoffen. Doch der gute Mensch verbat sich jede Kritik, er wollte schließlich nur das Beste für die Menschen, die offenbar den richtigen Pfad verlassen hatten und Anleitung brauchten. Wie weit der Mensch schon in seiner Selbstliebe gediehen sei, bemerkte der gute Mensch traurig zu sich selbst, und setzte seine Erdenrettung fort.
Die Jahre vergingen, und eine Rettungsaktion jagte die nächste. Der gute Mensch war stolz, sich so selbstlos für das allgemeine Wohl einzusetzen.
Als nächstes bemerkte der gute Mensch mit Missfallen, dass körperliche Arbeit immer mehr durch künstliche Technik ersetzt wurde. Der Bezug zur Natur ging sehenden Auges immer mehr verloren. Auch bemerkte er, dass große Unternehmen sich immer mehr auszubreiten drohten. So hielt er den König an, nur noch kleine Unternehmen zu fördern und Investitionen in neue Technologien einzustellen. Als einige Kritiker bemerkten, dass immer mehr hochausgebildete Menschen das Land verließen, um ihr Glück in fernen Landen zu versuchen, und moderne Produkte nur noch importiert werden konnten, belehrte der gute Mensch diese schnell, dass nicht Fortschritt, sondern “Nachhaltigkeit” die richtige Formel sei, ohne dies weiter zu erklären.
Die Auswanderungen von Fachkräften und Technologiefirmen nahmen weiter zu**, sodass das Land bald vom Import aus anderen Ländern abhängig war. Doch der gute Mensch war stolz, das Land vor Exzellenz und Fortschritt bewahrt zu haben – dem Quell allen Übels.
So, wie die menschliche Zivilisation Mutter Erde bereits gegen den großen Plan vereinnahmt hatte, musste seiner Ausweitung auch geographisch Einhalt geboten werden. Und so engagierte sich der gute Mensch ohne Unterlass für die Schaffung neuer Grünflächen und gegen das Bauen neuer Gebäude.
Insbesondere Großbauprojekte stellten für den guten Menschen ein perfektes Sinnbild des menschlichen Größenwahns gegenüber der göttlichen Schöpfung dar. So tat er alles daran, eine maximale Höhe für Gebäude durchzusetzen, neue Gebäude im Stile der alten zu errichten, und die Vergrößerung von Bahnhöfen und Flughäfen zu verhindern. Vereinzelt hörte er den Einwurf, dass Städte in anderen Königreichen auch keine Höhenbegrenzung hätten und zu den beliebtesten der Erde zählten, und auch nicht an jeder Stelle der Stadt hoch gebaut werden würde, aus Mangel an Nachfrage und Geld. Doch der gute Mensch wusste, dass den Anfängen gewehrt werden musste. Habe man erst einmal die Kontrolle aufgehoben, würden die Städte außer Rand und Band sein, unkontrolliert in kaum noch sichtbare Höhen wachsen und jedes noch so kleine Quentchen Menschlichkeit verlieren.
Dass er nur das Beste für das Volk wollte, zeigte sich schon an seinem unermüdlichen Einsatz für einen Mindestlohn für Arbeiter. Teilweise mussten in seinem Land Arbeiter für so wenige Taler schuften, dass sie kaum ihre Familie ernähren konnten. Auf dem Rücken des versklavten kleinen Mannes, so wetterte der gute Mensch, bereicherten sich die satten Großunternehmer – das werde er höchstpersönlich beenden. Und so ließ er den König festlegen, dass kein Unternehmer fortan seinen Arbeitern einen Stundenlohn unter einer von ihm bestimmten Grenze zahlen dürfe. Die Einwürfe einiger Skeptiker, ob denn die Arbeiter nicht für sich selbst entscheiden können, sie seien schließlich nicht zur Arbeit gezwungen, konnte er schnell als naiv abfertigen.
Viele angebliche Wirtschaftsweise warnten vehement vor den drohenden Abschaffungen von Arbeitsplätzen durch Unternehmer, die sich Gehälter nicht mehr leisten konnten. Doch der gute Mensch wusste natürlich, dass alle Firmenbesitzer so wohlhabend seien, dass sie sich noch viel mehr leisten könnten. Anstatt dessen ignorierten sie gierig ihre gesellschaftliche Verantwortung. Weitere Gesetze würden nötig werden, um Unternehmer in ihre Verantwortung zu zwingen, und er träumte von einem bedingungslosen Grundeinkommen. Doch dies überließ der gute Mensch vorerst anderen, um sich weiteren Projekten zuzuwenden.
Denn außerhalb seiner Landesgrenzen war die Situation der Arbeiter noch schlimmer. Dort nahm die Ausbeuterei durch große Firmen solche Maße an, dass Konzerne international tätig wurden und dort produzierten, wo es am günstigsten war, womit natürlich immer die Ausbeutung der jeweiligen Arbeitskräfte einherging. Meist wurde als Verteidigung dieser schandhaften Praxis angeführt, dass lokale Arbeitsbedingungen oft noch schlechter seien und durch die Schließung der inländischen Fabriken in fremden Landen Menschen zu schlechterer Arbeit verdammt sein könnten. Doch der gute Mensch blieb seinen Prinzipien treu und schuf lieber Alternativen: Unter dem Label “fair trade” setzte er sich für Produkte ein, die in kleinen ausländischen Betrieben ohne Einfluss böser Konzerne hergestellt wurden. Innovationen wurden damit gestoppt, mittelalterliche Produktionsarten zementiert und Preise durch mangelnde Skaleneffekte hoch gehalten. Auch erhielten die fernländischen Arbeiter kein höheres Gehalt oder besser Arbeitsbedingungen.** Doch der gute Mensch war sich sicher, dass er grundsätzlich richtig gelegen habe und der Rest nur Implementierungs-Schwierigkeit sei. Damit musste sich jedoch jemand anders auseinandersetzen, denn der gute Mensch hatte noch viel anderes zu tun.
Ein ähnliches Missverständnis sah der gute Mensch beim Sozialismus. Hunderte Male war diese doch offensichtlich gerechteste Gesellschaftsform schon umgesetzt worden, doch stets von kapitalistisch-imperialistischen Gegnern so untergraben worden, dass sie schließlich scheiterte. Oft war es auch einfach nicht richtig versucht worden. Und die Millionen Todesopfer, die er immer wieder von kapitalistischen Gegnern vorgehalten bekam, waren nur ein unfairer Versuch, die tragischen Opfer einzelner Vorkommnisse an ein politisches System zu heften. Auch tat er schnell als Scheinargument ab, dass alle kapitalistischen Staaten der Welt ausnahmslos höheren Wohlstand und Fortschritt erzielt hatten. Denn Wohlstand, so wisse ja wohl jedes Kind, sei relativ – nicht der absolute Wohlstand zähle, sondern die Wohlstandsunterschiede in einer Gesellschaft. So sei es besser, wenn alle arm seien als dass nur wenige arm seien und der Rest mittelständisch oder reich. Und Fortschritt sei, wie jeder inzwischen wisse, sei nun wirklich nichts Erstrebenswertes, schließlich führe es nur weiter von der göttlichen Schöpfung weg.
Daher bemühte er sich auch darum, jene Kulturen aufzuwerten und zu unterstützen, die noch ursprünglicher und weniger verkommen von der westlichen Zivilisation waren als die seine. Schließlich war dem guten Menschen ohne jeden Zweifel klar, dass die Indiofrau aus dem Busch, der schwarze Schamane, der islamische Dorfälteste, der gedankenlesende Aboriginee und der germanische Wotan-Anhänger von Natur aus unschuldig waren und daher bessere Menschen sein mussten als beispielsweise der amerikanische Stadtbewohner. Denn was hatte dieser schon jemals zum Wohl der Menschheit beigetragen?
Aus demselben Grunde verteidigte er großzügig jede noch so fragwürdige Tat von Fremdländern nicht-westlicher Provenienz, ließ jedoch toleranzlose Strenge gegenüber Amerikanern, Israelis, Nord- und Mitteleuropäern und allen anderen zivilisierten Westlern walten. Denn auf keinen Fall dürften beide Gruppen mit den selben Maßstäben bewertet werden – das führe nur zu den falschen Schlüssen.
Sein Missfallen drückte der gute Mensch natürlich nicht nur vor König und Zeitungen, sondern auch inmitten des Volkes aus, auf temperamentvollen Demonstrationen. Seine Lieblingsdemonstration fand jährlich am 1. Mai statt – die Bühne für alle Opfer des menschlichen Fortschrittes. Denn hier konnte er den herrschenden Machtverhältnissen die Stirn bieten und auch einmal durch Protestaktionen wie Gewalt an Polizisten oder Privateigentum seine Ablehnung gegenüber dem kapitalistischen System Ausdruck verleihen. Doch das konnte man ihm selbstverständlich nicht vorhalten, denn es handelte sich um Gegenwehr gegen die Oppression durch Freiheit und freien Wettbewerb. Und der gute Zweck rechtfertige schließlich jedes Mittel.
Ähnlich verhielt er sich, als er vor den großen Wahlen den Wahlkampf gegnerischer Parteien beobachtete. Der freie Wille des Bürgers – jener Unwissenden, ja Ungläubigen, die am 1. Mai nicht mitmarschiert waren – dürfe in keinem Falle gewinnen, ja erst gar nicht ernst genommen werden. Und so tat der gute Mensch alles daran, die Parteien der bösen Menschen so lange zu diffamieren, bis eine Wahl nicht mehr salonfähig war. Wahlveranstaltungen beendete der gute Mensch gewaltvoll, und Wahlplakate hing er ab, denn kein Bürger solle in die Fänge des falschen Lagers geraten. Wie der Hirte mit dem Schafe sah es der gute Mensch als seine Aufgabe, vor der falschen Wahl zu behüten. Freie Meinungsäußerung und Demokratie seien ja schön und gut, aber auch diesen müssten Grenzen gesetzt werden, da war sich der gute Mensch sicher. Und er sah sich als die beste Person, diese Grenzen für alle festzulegen.
Die Wahl war beendet und ein neuer König an der Macht, als der gute Mensch zu einer Audienz gerufen wurde. Mit Stolz erklomm er die Stufen zum Throne des neuen Königs, seine beratenden Dienste anpreisend. “Ich habe von Deinen Diensten für unser Volk gehört” so begann der König. Errötend verneigte sich der gute Mensch und sagte, er habe stets sein Bestes getan. Da nickte der König und sagte: “Nach so vielen Jahren des unnachgiebigen Einsatzes für die gute Sache sollst Du nun ein Geschenk von mir erhalten” Der gute Mensch fühlte sich groß und gut, als habe er sein Lebensziel erreicht, und sagte, dass ihm sein Engagement Geschenk genug gewesen sei. Doch der König bestand darauf, ihn zu ehren. “Mein Geschenk für Dich, Du guter Mensch, ist eine Welt, in der alles Deiner Vorstellung entspricht, in der Du keine gegnerischen Ideen mehr fürchten musst, und all Deine Wünsche in Erfüllung gegangen sind.” Mit großen, ungläubigen Augen starrte der gute Mensch still. “In dieser Richtung”, er zeigte aus dem Fenster in die ferne Hügellandschaft “habe ich ein Paradies auf Erden für Dich errichtet, Deinen jahrelangen Anweisungen folgend: Deine Hütte wird nur mit Sonne und Wind betrieben. Du wirst ökologischen Anbau mit lokalem Saatgut betreiben, der natürlichen Saison folgend. Die Menschen aus der Nachbarschaft habe ich angewiesen, nur gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen und die Erfüllung von klar definierten Quoten für Dich den Acker zu bestellen. Solltest Du am Ende mehr Güter ansammeln als sie, sollst Du sie mit ihnen gerecht teilen. Neue Bauten und Technologien sind Dir nicht erlaubt, so wie Du es uns gelehrt hast. Als geltendes Gesetz sollen die Weisheiten der Scharia gelten und für medizinische Hilfe haben wir bereits einen Naturheiler angesiedelt. Die Einwohner des nächsten Dorfes sind allesamt Angehörige eines afrikanischen Kriegerstammes und Ureinwohner vom Amazonas. Allerdings bringt die Praxis der Scharia eine nur begrenzte Rechtsstaatlichkeit mit sich, daher geben wir Dir zur Hilfe dieses Buch mit.” “Interkulturelle Kommunikation – ein praxisorientierter Diskurs” las der immer noch schweigende gute Mensch. Mit einem zögerlichen Lächeln zog er hinfort und bezog am nächsten Tag seine Residenz. Seitdem wurde nie wieder etwas von ihm gehört.
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