India Babble
Seit dem 5. November bin ich auf Reisen in Indien. Zu Indien habe ich mich ja eigentlich schon ausreichend geäußert. Ich kann mir aber trotzdem nicht verkneifen, einige Anekdoten mit euch zu teilen.
Meine Reise fing in Chennai an, wo ich zwei Nächte und einen Tag mit Ramas Mutter verbrachte. Was mir anfangs noch etwas Angst bereitet hatte, stellte sich als entspanntes und humorvolles Unterfangen dar – ohne Rama war es fast lockerer, und wir kommunizierten mehr als sonst. Ich war an diesem Tag so gut wie immer zu Hause, aber diese Sicherheitsverwahrung vor der indischen Realität bewahrte mich nicht vor einem Vorfall. Während meines kurzen Einkaufsausflugs um den Block gab ich einige Kleider zum Bügeln auf der Straße, was ich vor dem Packen in Bangkok aus Faulheit nicht erledigt hatte. Nach einer Stunde holte ich einen ganzen Beutel säuberlich gebügelter und mit Zeitungspapier gefalteter Kleidung ab, und überprüfte ganz überwältigt von der Ordentlichkeit und dem Drang nach interkultureller Harmonie erliegend nicht die Vollständigkeit der Kleidungsstücke. Wie ich später feststellte, verlor ich an diesem Tag mein Lieblingskleid.
Am 7. ging es mit dem Zug nach Bangalore. Ich war früh da und hätte mir draußen noch etwas zu Essen kaufen können. Leicht panisch setzte ich mich aber schon eine halbe Stunde vor Abfahrt in den bereits wartenden Zug, da dies alle anderen Passagiere ebenfalls mit einem Aktionismus taten, der eine baldige Abreise nahelegte – und obwohl ich aus Indien eher Verspätungen als Verfrühungen kannte, traute ich der indischen Bahn so einiges zu. Nach einer Weile fasste ich Vertrauen in die pünktliche Abreise, wollte aber meinen Platz aufgrund der zumindest in meiner Vorstellung umherschwirrenden Platzwitwen* nicht verlassen. (*So nenne ich indische ältere Frauen, die einen reservierten Platz okkupieren und diesen mit mitleidserweckendem Blick und Implikation ihres Alters nicht räumen wollen – vermutlich handelt es sich um kein statistisch nachweisbares Phänomen, mir ist es aber schon zwei Mal passiert, und daher traute ich mich nicht von der Stelle.)
Der Zug war so kalt, dass ich trotz Strickjacke stundenlang fror und mich immer wieder in den Zugscharnieren nahe der bei fahrendem Zug offenen Türen aufwärmen musste.
In Bangalore erwartete mich mein humpelnder Uni-Freund Joseph auf dem Gleis. Er hatte mit seinem Mofa einen Unfall gehabt, bei dem der Auffahrende nach Beobachten dessen Flugs durch die Luft das Weite gesucht hatte. Wir vereinbarten, dass Joseph mit seinem Mofa vorfahren würde und ein Auto* mit mir und meinem Riesenkoffer ihm folgen würde (Auto=motorisierte Riksha bzw. TukTuk). Mit dem Auto-Driver handelte er minutenlang einen immer noch überhöhten Preis aus.
Joseph war gerade losgefahren, da quetschte sich eine junge Frau auf Geheiß des Fahrers unaufgefordert neben mich auf die Rückbank. Ich protestierte, was das denn solle, ich habe doch gezahlt, er hätte mich zumindest fragen sollen und so weiter und so fort. Aber es half nichts, der Fahrer antwortete mit einem sich wiederholenden „my wife, my wife“. Ich hätte gerne mich gerne noch weiter dazu ausgelassen, wie unwahrscheinlich es sei, dass es sich bei der Frau um seine Ehefrau handele, die gerade zufällig während seiner Arbeitszeit am Bahnhof abgehangen hatte, und dass es auch in diesem unwahrscheinlichen Fall völlig irrelevant sei, da ich das Auto gemietet habe und er nicht das Recht habe, einfach seine Frau mitzunehmen, zumindest nicht auf diese unverschämte Weise, ohne mich zu fragen. Aber ich verlor Joseph schon im Verkehr aus den Augen, und so sagte ich „fine, whatever“ und sah weder ihm noch seiner Frau daraufhin aus Strafe in die Augen.
Am nächsten Tag hatte Joseph ein Skype-Interview. Er hatte überhaupt keine Lust darauf, bereitete sich nicht vor, und trug nur ein ungebügeltes Hemd über seiner Sportshorts. Als das Interview nach etwa 15 Minuten vorbei war, sagte er wie nebenbei „They won’t take me. They are typical Indians and ask the typical Indian questions – only looking for very specific qualifications and experiences, only focussing on the small and what might be lacking. Because they are Indians they did not tell me honestly that they are not interested. I don’t want to work for them either.“ Joseph will so schnell wie möglich aus Indien weg, und heiraten wie viele seiner Freunde will er derzeit auch nicht. „I guess Europe has spoilt me“ grinst er. Er ist ziemlich zynisch bezüglich Indien und macht sich lustig über Aussagen zum „Indian pride“.
Am Abend trafen Joseph und ich ein paar Freunde von der Uni – Vikas, Chavi, Rahul und Sati. Zuvor hatten wir uns bei Vikas und Chavi zu Hause getroffen. Zu dem Abend zwei Bemerkungen: 1. Vikas und Chavi wohnten in einem für ihr Alter und Ausbildung repräsentativen Neubaublock, den man bei uns nicht als schick empfinden würde. Das gilt auch für die Einrichtung, die wir eher altmodisch fänden. So unterscheiden sich die nationalen Geschmäcker. 2. Der Grad an Offenheit der Gespräche war insgesamt höher als in Deutschland – auch dies eine interessante Feststellung, die den Vorurteilen der meisten Leser widersprechen wird. In Indien gibt es viel weniger political correctness als bei uns, das ist mir naheliegender Weise vor allem bei meinen Lieblingsthemen Energiepolitik, Antisemitismus und Islam aufgefallen. Man sagt hier einfach, was man denkt, in demselben Ton als würde man über ein beliebiges anderes Thema reden. Man hält nicht daran fest, man redet einfach normal. Diese Normalität hat sich auch daran gezeigt, dass einige der Anwesenden keine Meinung zum Thema hatten, und sich die vorhandenen Meinungen unterschieden. So war es in keiner Weise für die Gruppendynamik aufreibend oder irgendwie provokativ, als Vikas sagte „I think, for a country like India, nuclear power makes by far the most sense.“ Als ich grinste und das Meinungsbild in Deutschland wiedergab, konnte er so wenig damit anfangen, dass er nur die Schultern zuckte und höflich lächelte. Es war extrem erfrischend, mal ohne Korsett zu reden.
Bevor ich Bangalore verlasse, noch ein paar Worte zur Stadt: Bangalore ist der IT-Hub Indiens. Wenn irgendwer in Deutschland sagt, dass er seine IT nach Indien outsourced, dann meint er wahrscheinlich Bangalore. Die IT-Firmen haben Fachkräfte angelockt, und beides hat internationale Firmen zu einer Niederlassung bewegt. Dadurch trifft man hier verhältnismäßig viele Expats, und sieht viele moderne Bürogebäude großer nationaler oder internationaler Firmen. Bangalore hat ein angenehmes, fast europäisches Klima, und ist zumindest in den mir bekannten Abschnitten verhältnismäßig gepflegt. (Ich betone verhältnismäßig, es ist immer noch Indien). Die Stadt ist jung, und es gibt die entsprechenden Einrichtungen (Malls, Bars etc.). Wie ich hörte, ist die Stadt auch recht grün und hat einige Parks, was für Indien wirklich bemerkenswert wäre. Bangalore hat mir gut gefallen.
Am 7. flog ich nach Kochi (auch Cochin), der geheimen Hauptstadt Keralas. Schon am Flughafen merkt man, dass es in Kerala provinzieller zugeht: Kleines Terminal, keine internationalen Essensketten wie Subway, KFC oder McDonalds, keine Shoppingmöglichkeit, kein WiFi. Ich hatte mich dort mit Rama verabredet, der an dem Tag aus Chennai einflog (er war erst in Chennai angekommen, als ich schon in Bangalore war). Ich verbrachte die zwei Stunden Wartezeit mit meinem Computer im Food Court und schaute mir einige Folgen Homeland an. Ich wäre gerne durch Kochi geschlendert, zumal ich meiner Mutter ein bestimmtes Parfumöl kaufen wollte, was es nur in Kochi gibt – aber da nur ich ein Mobiltelefon hatte, wäre die Absprache mit Rama zu schwierig geworden.
Sinn unserer Reise nach Kerala war der Besuch von Ramas neu erworbenem Grundstück samt Bauruine an den Backwaters nahe Aleppey. Dazu wollten wir unsere Basisstation in Aleppey errichten und von da aus zum Grundstück in Chekkidikadu fahren. Wir fuhren mit dem Taxi nach Aleppey, für die 90 Kilometer bei schlechtem Verkehr zahlten wir übrigens nur 21 Euro.
Allen Reisenden nach Aleppey (und wahrscheinlich ganz Kerala) kann ich nur ans Herz legen: Wenn ihr nicht mehr als 50 Euro pro Nacht zahlen wollt, dann schlaft nicht in Hotels, sondern in Homestays! Während wir in Kerala durchweg gute Erfahrungen mit Homestays gemacht hatten, war unser Hotel eine Enttäuschung. Mein tripadvisor post zum Hotel Royale Park wird vermutlich den Titel „Stay away from…“ tragen. Unser Raum war voll mit Schimmel, und roch auch so, und alles sah aus, als wenn es über Jahre nur mit Wasser und ohne Reinigungsmittel gesäubert worden wäre. Das Wasser hat nicht nur nach Eisen geschmeckt, sondern hinterließ auch überall im Badezimmer rote Flecken. Ich glaube, ich habe in diesem Hotelzimmer ein paar Lebensjahre verloren. Ich war froh, als wir zwei Tage später abreisten. Gleich zum Grundstück. Vorher möchte ich aber einen Exkurs zum Thema Badezimmer in Indien machen:
Alle mir zu Augen gekommenen indischen Badezimmer sind nichts anderes als große Nasszellen. In einer Ecke ist das Waschbecken mit kleinem Spiegel, in einem anderen eine westliche Toilette* mit indischer Adaption: kein Toilettenpapier, dafür Wasserschlauch, Wasserhahn und Becher zur Reinigung der entsprechenden Körperteile unter Zuhilfenahme der linken Hand. (*Plumpsklos gibt es auch und öfter als man denkt, aber nicht mehr in Hotels). Und in einer weiteren Ecke befindet sich die Dusche ohne abgesenkten Boden oder Abtrennung. Das Wasser spritzt natürlich in das gesamte Zimmer, und es gibt (vielleicht deswegen) wenn überhaupt nur eine winzige Ablage beim Waschbecken oder wenige Haken an der entferntesten Wand. Die abgelegte Kleidung, Kulturbeutel, Handtücher und mitgebrachtes Toilettenpapier müssen daher mit erfahrener Hand auf der winzigen Ablage, auf dem Klodeckel oder an die Türklinke geklemmt, gestapelt oder gehängt werden. Wenn die Situation ein anschließendes Ankleiden im Badezimmer erfordert, muss besondere Sorgfalt beim Anziehen der Hose geübt werden, da diese nicht den nassen Boden berühren darf. Beim Waschen muss übrigens peinlich darauf geachtet werden, dass kein – meist verunreinigtes – Wasser geschluckt wird, aber dafür kann das Badezimmer ja nichts. Der Sinn dieser Badezimmergestaltung hat sich mir jedenfalls nie erschlossen.
Unser Grundstück ist ein Rohdiamant mit drei Wasserseiten, etwa 4000 Quadratmeter Größe, einem verwunschenen, 100 Jahre alten Haus aus Teakholz, Kokospalmen und Mangobäumen. Wir werden uns im nächsten Jahr der Renovierung und der Gartenanlage widmen und dann vielleicht ein luxuriöses Ferienresort daraus machen, mal sehen. Es hängt alles vom Geld ab, denn es müsste einiges reingesteckt werden. Das Potential ist jedenfalls enorm, wenn man einmal von der 30minütigen Anfahrt aus Aleppey und ein paar Stunden Anfahrt vom nächsten Flughafen absieht. Sobald ich wieder schnelles Internet habe, lade ich ein paar Fotos hoch.
Für den Weg zurück nach Chennai hat Rama zwei Zugtickets gebucht. Reisedauer: 15 Stunden. Liegeplätze: RAC* (*aufgrund der Menschenmassen muss man hier Wochen früher reservieren, und manchmal ist man bis zuletzt auf der Warteliste oder auf „RAC“, was bedeutet, dass man sich einen Schlafplatz teilen muss). Wunderbar. Ick sag mal so: Ich hätte mir vermutlich den Stress gespart und ein Flugticket gekauft, was hier mit etwa 60 Euro bezahlbar ist. Rama fährt gerne Zug, sagt zu Recht, dass dieser deutlich billiger ist (weniger als 10 Euro) und fügt gerne hinzu, dass „this is how you travel in India“. Ich habe mich gefügt. Das Resultat meiner Passivität: Wir hatten zwei nicht bestätigte RAC-Sitze in unterschiedlichen Abteilen. Zunächst setzten wir uns gemeinsam in eins, in der Hoffnung, dass es sich irgendwie klären würde (in Indien klärt sich immer alles irgendwie weil irgendwer nicht kommt, irgendwer bestochen werden kann oder sonst irgendwas Intransparentes passiert).
So saßen wir also in einem Abteil mit einem Paar, einer Mutter mit zwei quirligen Kindern und deren Mutter. Die Kinder machten unablässig Geräusche, wurden hin und her gereicht und betatschten meinen Computer, woran sie nicht wirklich gehindert wurden. Als es unangenehm wurde, verabschiedete sich Rama in das andere Abteil, um dort unser Glück zu versuchen. Ich quetschte mich ein eine Ecke, schaute einen Film und tat so, als wenn ich die aufdringlichen Kinder nicht bemerken würde. Wie die Nacht werden würde, wusste ich nicht. Ein Abteil hat zwei Doppelbetten, von denen die unteren Bänke tagsüber von den vier (planmäßig vorgesehenen) Passagieren zum Sitzen gebraucht werden. Nun saßen wir hier zu siebt, und das Paar hatte zwei bestätigte Plätze. Mir stand also bevor, mir zwei Liegeplätze irgendwie mit zwei Frauen und zwei Kindern teilen zu müssen. Mir schwante bereits folgendes Szenario: „Mom, mom, can I sleep with auntie*?“, begeistert auf mich und meinen Computer zeigend (*aunties sind alle Frauen über 20, die nicht Mütter sind). Die Mutter: „Would you mind?“, flehend blickend. Und ich, in einem folgenreichen Anflug von Harmonie: „Uhm…OK.“ Mein Selbstmitleid wuchs und wuchs, ebenso wie meine Aggressionen auf Rama, dem ich alle Schuld für alles gab. Um dem Ausdruck zu verleihen, gab ich ihm betont widerwillig Beachtung, als er mich besuchen kam. Als ich, noch mit Kopfhörern, ihn jedoch grinsen und winken sah, änderte sich alles. „Come, come, I have found us two benches!“ Aus dem Schuldigen wurde mein Prinz, mein Retter. Alles fiel von mir ab, ich konnte mein Glück kaum fassen, diese plötzliche Wendung der Dinge. Der Schaffner war wohl ein Tamile oder es gab sonst irgendeine Connection, weswegen Rama geholfen wurde – die Details wollte ich gar nicht wissen. Im Freudentaumel packte ich meine Sachen und bezog mein neues Quartier. Die schäbige, schmale und wenig gepolsterte Bank am Gang des Zuges mit seinen vor Schmutz undurchsichtigen Fenstern wurde meine paradiesische Zuflucht. Alles war gut, und ich schlief tatsächlich 8 Stunden durch und ertrug den Schmerz am nächsten Morgen tapfer.
Meine Rundreise ist am Ende angelangt – Ramas Mutter und Arjun, ihr Enkel, sind im Wohnzimmer und sehen fern, Rama bearbeitet nicht enden wollende Arbeits-Emails und ich schreibe meinen Reisebericht. Morgen ist Diwali, die indische Version von Weihnachten und ich bin gespannt, was bzw. ob mich etwas erwartet. Übermorgen geht es dann zurück in meine auf doppelte Weise neue Heimat – denn es geht endlich in unsere Wohnung. Ich halte euch auf dem Laufenden.
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