Entwicklungstourismus
Wenn westliche Touristen ein “Entwicklungsland” bereisen, dann ist oft der Name Programm: Wie sich Gesellschaft und Wirtschaft weiterentwickeln, welche Hoffnungen auf einen Anschluss an die westliche Welt bestehen, ist uninteressant bis ablehnenswert. Was dagegen mit verkapptem Überlegenheitsgefühl gerne besichtigt und befördert wird, ist das Traditionelle, Kleine und Ungebildete. So besichtigt man in Saigon gerne den für Touristen ausgelegten Markt mit vietnamesischen Artefakten minderwertiger Qualität, der von Vietnamesen selbst nicht frequentiert wird. Oder man besucht die Behindertenwerkstatt ausgegrenzter Obdachloser. Oder man lernt, wie auf dem Land auf traditionelle Weise Honig hergestellt wird. In Indien fotografiert man begeistert glückliche Reisbauern, alte Frauen bei der Teeernte, oder das Baden im virenverseuchten Ganges.
Natürlich ist es verständlich, dass das Erlebnis des Anderen interessanter ist als das bereits aus eigenem Land Bekannten. Auch ausländische Touristen in Deutschland interessieren sich oft für Folklore mehr als für aktuelle Realität. Ausschlaggebend ist jedoch, wie die anschließende Wertung der vorgefundenen veralteten Traditionen ausfällt: Wertet man das Erlebte als eine Art Reise in die Vergangenheit des eigenen Landes, als Beginn eines Weges in eine entwickeltere Zukunft, als unterhaltsame Folklore oder romantisiert man die für die tatsächlichen Beteiligten in großen Teilen beschwerliche Unterentwicklung und bemüht sich noch aktiv um deren Zementierung, indem man traditionelle Praktiken schönredet und technologische und wirtschaftliche Entwicklung direkt oder indirekt bedauert?
Die Praxis zeigt meiner Beobachtung nach zu oft die letztere Herangehensweise, kombiniert mit der inkonsistenten Doppelmoral des Einfachheitsromantikers, die sich nicht nur aus einer Romantisierung des Vorindustriellen speist, sondern auch aus dem warmen Gefühl der eigenen Überlegenheit. Denn würde der Entwicklungstourist selbst wirklich wie ein vietnamesischer Bauer, Sonnenbrillenverkäufer oder Straßenkoch leben wollen? Würde er sich mit einem Leben in unhygienischen Unterkünften in den Vororten der Stadt begnügen, sich mit Krankheiten und schlechter Hygiene herumschlagen, sich jeden Taler vom Brot absparen, jeden Tag 18 Stunden arbeiten, den ganzen Tag mit 35 Kilo bepackt durch die Straßen laufen, täglich die verpestete Luft des Straßenverkehrs einatmen, oder Analphabet sein wollen? Natürlich nicht – denn seine Unterkunft soll selbstverständlich alle Mindestanforderungen erfüllen, natürlich möchte er keine Lebensmittelvergiftung kriegen und beobachtet doch lieber aus der Ferne, wie sich ein Badender die Cholera im Ganges holt. Auch möchte er nicht täglich auf seine gewohnte Toilette verzichten und sein Geschäft nur mit der Hilfe von Wasser in irgendein Loch in der Erde verrichten. Würde er wirklich wie ein Durchschnittsvietnamese leben, dann könnte er sich auch keine der “authentischen” Riksha- oder Fahrradtouren leisten, geschweige denn den Kaffee zwischendurch, das Bier am Abend oder die “günstige” Massage.
Bei anderen bewertet der Entwicklungstourist eine wirtschaftliche und technologische Unterentwicklung jedoch auf wohlwollende Weise als sympathisch, auf jeden Fall aber moralisch vorbildlich. Es soll weiterhin das ineffiziente Saatgut verwendet werden, der Tee per Hand gepflückt werden, die schweren Körbe geschleppt werden, aus nicht weiter erklärten Gründen macht dies automatisch erhaben.Und schafft es ein Thema in die Medien, dann wird auch hier die Realität verdreht – Hungersnöte sind dann nicht durch schlechten Anbau, sondern durch den Klimawandel bedingt, verseuchtes Trinkwasser wird nicht mit schlechter Hygiene und mangelnder Infrastruktur, sondern mit – meist nur angedeuteten – Chemiekonzernen oder zu viel Wasserverbrauch in der ersten Welt erklärt, und Armut hat generell nicht etwas mit bekämpfbarer Unterentwicklung, sondern der Ausbeutung durch die erste Welt zu tun. Manchmal erkennt der Entwicklungsland-Fan, dass irgend etwas an diesem Modell nicht stimmt, und setzt sich dann für “Fair Trade” ein, eine Art Bonussystem für Unterentwicklung.
Man hat sich dank starker Einbildungskraft und viel Faktenverdrängung davon überzeugt, dass früher irgendwie doch alles besser war, unkomplizierter, authentischer, “menschlicher”, und möchte daher andere in diesem Zustand erhalten, während man selbst in der Praxis den durch die Moderne errungenen Komfort nicht aufgibt – und begreift einfach nicht, dass Modernität, Entwicklung und Komfort identisch, und nicht zu trennen sind.
Man gibt sich als Samariter, tut aber doch alles, um eine Entwicklung aus der Opferrolle heraus zu verhindern. Indem der Entwicklungstourist den armen und ungebildeten Entwicklungslandbewohner zum Maßstab macht, korrumpiert er seinen eigenen Anspruch des wohlmeinenden und hilfsbereiten Mitmenschen. Denn anstatt das tatsächliche Wohlergehen von realen Menschen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen, widmet er sich lieber der Kultivierung eigener Projektionen, die sich vor allem aus dem Unterstreichen des Unterschiedes zur eigenen Herkunft speisen.
Diese Einstellung erklärt unter andrem, warum der Entwicklungstourist auf seinen Reisen Safari-, Hippie- oder Hauskleidung für angemessen hält (vgl. hierzu meinen Text “Farang-Welten” auf Bangkok Babble), anstatt sich – auf Augenhöhe – einfach wie zu Hause zu kleiden. Selbstverständlich spielt die Tatsache, dass man im Urlaub ist, und sich deswegen auch kleidungstechnisch entspannen möchte, eine Rolle – so würde man am Ballermann auch nicht seine beste Kleidung tragen, obwohl Spanien (noch) kein Entwicklungsland ist. Der Aspekt der eigenen Projektion eines Entwicklungslandes und der eigenen Rolle wirkt jedoch meines Erachtens ebenso stark.
Diese inkonsistente Realitätskonstruktion halte ich für Teil eines Zeitgeistes, welcher das Schwache, Kleine und Vorindustrielle zum moralischen Maßstab macht. Wohlgemerkt ohne den Maßstab selbst zu befragen, ob er Maßstab sein möchte. In Indien wird so meist mit Unverständnis reagiert, wenn der Entwicklungstourist seine Kamera mit Genuss immer nur auf Armut und Unterentwicklung hält. Und in Vietnam macht ein Unternehmer klar, dass die altmodischen Krammärkte nur was für Touristen seien, während er – wie die meisten Vietnamesen – eher am Modernen interessiert sei. Ähnliches beobachtet man übrigens auch in Deutschland: Der “kleine Mann” wählt selten die Linke – dies aber nur am Rande.
Angenehmer Nebeneffekt dieser Perspektive ist dabei die eigene Aufwertung – denn wenn Leistungslosigkeit und/oder Stillstand erstrebenswert ist, muss man sich selbst nicht mehr weiterentwickeln, um anerkannt zu sein. Außerdem kann man sich so unter dem Deckmantel der guten Sache stets an der Schwäche anderer nähren.
Zum Glück speist der Entwicklungstourist durch seinen lokalen Konsum automatisch die wirtschaftliche Entwicklung vor Ort – moralisch ist er jedoch keine Hilfe.
Komisch, dass mir direkt der deutsche Arbeitsmarkt dazu einfällt. Chefs erklären ihren Mitarbeitern was sie falsch machen, wohin sie sich entwickeln sollen und tuen doch gleichzeitig alles, damit niemand ihnen am Stuhl sägt. Fördern also ihre Mitarbeiter und achte doch gleichzeitig darauf, dass sie ein kritisches Level nicht überschreiben um selbst nicht in “Entwicklungsnot” zu kommen.
Schöner kritischer Artikel.
stimmt…könnte ein verwandtes phänomen sein…danke jedenfalls für die blumen 🙂